Christin Melcher
Einen Tag bevor ich Christin traf, wurde die Eisenbahnstraße in Leipzig, an der wir die Fotos machten, zur Waffenverbotszone erklärt, also zu einem Ort, an dem die Polizei einfach deine Tasche verdachtsunabhängig kontrollieren darf. Als ich mich dann mit Christin traf, gab es dann auch gleich die ersten Schilder, die auf dieses Verbot hinwiesen. Hier wird also eine ganze Straße bzw. ein ganzer Stadtteil unter Generalverdacht gestellt. Darüber redete ich mit Christin, wie auch über den anstehenden Landtagswahlkampf nächstes Jahr in Sachsen. Christin ist die Landessprecherin der GRÜNEN in Sachsen. Wie sie sich politisiert hat, könnt ihr hier nachlesen:
Wo bist du aktiv und wofür engagierst du dich?
Seit knapp 2 Jahren bin ich Landessprecherin von BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN in Sachsen. Ich engagiere mich seit Jahren in vielen Bündnissen, sei es das Aktionsnetzwerk “Leipzig nimmt Platz“ oder das Bündnis gegen das geplante Polizeigesetz. Darüber hinaus habe ich viele Initiativen selbst initiiert: die Initiative „Druck! machen. – für ein anderes Sachsen“, ein Projekt, das es geschafft hat, dass Legida zum ersten Mal gegen den Protest demonstriert hat. Das Leipziger Brückenfest habe ich ebenfalls initiiert und organisiert. Ein internationales Fest, welches jedes Jahr auf der Sachsenbrücke in Leipzig statt findet. Außerdem habe ich die Leipziger Kita-Initiative gegründet, ein bundesweites Sprachrohr für bessere Qualität in Kindertageseinrichtungen.
Was sind deine Aufgaben?
Aktivität ist für mich mit Glaubwürdigkeit verbunden. Seit über 20 Jahren habe ich eine politische Haltung, die ich auch aktiv vertrete. Aktivität hat so viele Gesichter. Aber oftmals fehlt der Fokus auf all diejenigen, die dies selbstverständlich tun, ob am Arbeitsplatz, in der Kneipe, auf der Familienfeier oder in den Sozialen Netzwerken. Es sind die Menschen, ohne die die Menschen am Megaphon nichts wären. Es sind die Menschen, ohne die diejenigen, die in Pressemitteilungen genannt werden, nichts wären. Es gibt einen Unterschied zwischen denen, die ihre Haltung verkaufen, und denen, die eine Haltung haben. Und es gibt eben auch einen Unterschied zwischen jenen, die starke Worte finden, und jenen, die stark sind.
Wofür kämpfst du?
Ich kämpfe dafür, dass wir alle offen aufeinander zugehen und alle diskriminierungsfrei leben können.
Wann hat dein Kampf begonnen?
Ich bin in Ost-Vorpommern aufgewachsen. Wahlergebnisse von rechtsradikalen Parteien bei über 20% waren keine Seltenheit. Der allgegenwärtige Rassismus war spürbar, gerade in dieser Grenzregion zu Polen. Im Jahr 2000 wurde in Ahlbeck ein Obdachloser gewaltsam von Rechtsextremen zu Tode geprügelt. Eine schreckliche Tat, die mich nicht mehr los ließ. Wir waren auf Usedom nur wenige, die anders dachten, anders handelten. Wir hatten keine Jugendtreffs, keine Clubs, die eine alternative Jugendkultur ermöglichten. Unser Widerstand bestand in Aufnähern und Diskussionen. 2003 kam ich zum Studium nach Leipzig, hier tobte gerade der Studentenprotest. Mein Studiengang war von der Schließung bedroht, ich engagierte mich in der studentischen Selbstverwaltung und beim Protest. Schlussendlich waren das die Momente der Politisierung. Es folgten viele weitere Aktivitäten. Die Anti-Nazi-Demos in Leipzig waren fast obligatorisch, fanden aber ab 2013 eine neue Intensität, der Moscheebau in Gohlis, die Unterkunft für Zufluchtsuchende in Schönefeld und schlussendlich die Legida-Proteste haben viel an Zeit und Kraft gekostet.
Welches Ereignis hat dich am meisten geprägt?
Viele Ereignisse haben mich in meinem politischen Engagement bestärkt, doch die Student_innen-Proteste ab 2003 waren für mich besonders. Es gab eine Kultur des Respekts, des Miteinanders und der Anerkennung, die mich bis heute prägt. Ich habe viele Freundschaften geschlossen, die bis heute tragen, weil wir auf einander achteten, einander zuhörten und Eigeninteressen hinter die Interessen aller zurückstellten.
Was würdest du an der aktuellen Situation ändern wollen?
Ich schrieb meine Magisterarbeit über die Wahrnehmung von Ähnlichkeiten. Wir leben einer Welt, die gut ist im Unterscheiden und identifizieren, doch weder die Erkenntnis der Identität, noch die des Unterscheidens bringt irgendeinen Erkenntnisgewinn, aber das erkennen von Ähnlichkeiten ist eine wirkmächtige Relation. Ich wünschte mir, dass wir weniger in Schubladen und Identitäten denken und lieber offen unsere Gesellschaft betrachten und Ähnlichkeiten erkennen, das wäre ein erster Schritt für unser solidarisches Miteinander.
Was ist dein aktuelles Lieblingslied?
Nun ja, das ist ja immer stimmungsabhängig, aber ein Lied, das eine gewisse Kontinuität hat, ist Sophie Hunger 1983. Dieses Lied ist nicht nur Namensgeber für unser gemeinsames Geburtsjahr, sondern gleichsam selten politisch wie philosophisch scharfsinnig. Sophie Hunger prangert in diesem Lied den fehlenden Gemeinsinn, die Verlorenheit, das fehlende Einsetzen für den Umweltschutz unserer Generation an. Dieses Lied hat an Aktualität nichts verloren. Wir leben in politischen Zeiten, die Gesellschaft hat sich geändert; eine Gesellschaft von Singularitäten, eine Gesellschaft von Selbstoptimierung und Leistungsdruck und allzu oft wird dem fatalerweise politisch als vermeintliche Antwort nur eine Volksidentität entgegnet, die es nicht gibt.
(Diesen Song findet ihr in der „herzkampf“-Playlist bei Spotify)
Gibt es Links oder Texte wo man sich näher über dich oder deine Institution informieren kann?
Ort der Aufnahme: Waffenverbotszone, Eisenbahnstraße, Leipzig
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